Goerdeler, Carl
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Goerdeler, Carl
Goerdeler, Carl
1919-1945 (-1933)
Nachlässe
105 Aufbewahrungseinheiten
1,6 laufende Meter
Geschichte des Bestandsbildners
Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954 NDB 6, S. 521 ff. Oberbürgermeister von Leipzig, Reichskommissar für die Preisüberwachung
Lebenslauf
Carl Friedrich Goerdeler wurde am 31. Juli 1884 als Sohn von Adelheid und Julius Goerdeler im westpreußischen Schneidemühl geboren. In der dritten Generation als Verwaltungsjurist im preußischen Staatsdienst tätig, hatte Julius Goerdeler seit 1884 neben seiner Tätigkeit als Amtsrichter auch eine privatwirtschaftliche Anstellung als Syndikus und Geschäftsführer der Landwirtschaftsbank „Neue Westpreußische Landschaf". Als Julius Goerdeler 1890 in das ostpreußische Marienwerder versetzt wurde, zog die Familie dorthin um. Goerdeler war Mitglied der Reichs- und Freikonservativen Partei und wirkte zeitweise als Fraktionsmitglied im preußischen Abgeordnetenhaus.2
2 S. Ines Reich: Carl Friedrich Goerdeler, Köln u.a. 1997, S. 43 ff.
3 S. ebd., S. 56 ff.
4 Vgl. zu Goerdelers Karriere in Solingen die Akten im dortigen Stadtarchiv; StAS, V-A-1.
Carl Goerdeler besuchte von 1891 bis zu seiner Reifeprüfung 1902 das humanistische Gymnasium in Marienwerder und begann danach das Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen und Königsberg. Nachdem er im Oktober 1905 die Erste Juristische Staatsprüfung bestanden und daran anschließend seinen Einjährig-Freiwilligen-Dienst abgeleistet hatte, begann Goerdeler seine praktische Ausbildung zum Justizreferendar, die er in verschiedenen ostpreußischen Justizstellen absolvierte. Im Juni 1908 wurde er zum Doktor der Rechtwissenschaften promoviert und im März 1911 absolvierte er sein Zweites Juristisches Staatsexamen.3
Nach dem Abschluss seiner verwaltungsjuristischen Ausbildung schlug Goerdeler eine kommunalpolitische Laufbahn ein. Zwischen 1911 und 1920 war er in der Stadtverwaltung Solingen tätig, zuletzt als Beigeordneter für die Verwaltungsbereiche Schul-, Finanz-, Steuer- und Personalwesen.4 Seine kommunalpolitische Karriere wurde unterbrochen vom Ersten Weltkrieg, den er als Stabsoffizier an der Ostfront miterlebte. Im letzten Kriegsjahr reorganisierte er im Auftrag der X. Armee die Finanzverwaltung in Weißrussland und Litauen. Im Juni 1919 ließ er sich erneut von seiner Solinger Stelle beurlauben; er meldete sich mit seinem Bruder Fritz freiwillig bei dem in Westpreußen stehenden XVII. Armeekorps und hatte dort aktiven Anteil VIII
an den Oststaat-Plänen, die eine Abtretung deutscher Gebiete in Ost- und Westpreußen zu verhindern suchten.
Bereits einige Monate zuvor, im Februar 1919, war Goerdeler der DNVP beigetreten. Nach den gescheiterten Oststaat-Plänen beteiligte er sich in den folgenden Monaten an der Bildung von parteiübergreifenden Arbeitsausschüssen in den westpreußischen Abstimmungsgebieten, als Vertrauensmann der DNVP in seiner Heimatstadt Marienwerder. Ende 1919 kehrte er zurück nach Solingen, bewarb sich aber gleichzeitig auf Stellen in Ostdeutschland. Von 1920 bis 1930 war er als Zweiter Bürgermeister in Königsberg tätig5 und verstärkte während dieser Zeit auch sein parteipolitisches Engagement: Während seiner gesamten dortigen Amtszeit war er Vorstandsmitglied im DNVP-Landesverband Ostpreußen, und zwischen 1922 und 1927 Mitglied des Parteivorstands. Nach seinem Eintritt in das Zweite Kabinett Brüning trat Goerdeler aus der Partei aus, da sich seine Mitarbeit in der Reichsregierung nicht mit der offiziellen Linie der DNVP Hugenberg'scher Prägung vereinbaren ließ.6
5 Die Akten des Stadtarchivs Königsberg sind zu Ende des Zweiten Weltkriegs zum großen Teil vernichtet worden; über Goerdelers dortige Tätigkeit finden sich keine Unterlagen mehr.
6 Vgl. Pressenotiz vom 13.12.1931; StAL, Kap. G, Nr. 685, Bh. 4, Bl. 35.
7 Goerdelers aktive Mitarbeit äußerte sich nicht nur in seiner Beteiligung an verschiedenen Ausschüssen des DST, sondern auch in seiner Korrespondenz sowie in seiner Vortragstätigkeit. Auf Umfragen des DST an deutsche Gemeindeleiter erfolgten regelmäßig umfangreiche Antworten Goerdelers; vgl. LAB, B, Rep. 142/I, DST, B.
8 S. dazu die Verhandlungen der Stadtverordneten im Leipziger Stadtarchiv; StAL, Akten der Stadtverordneten, 1930-1936.
Am 2. April 1930 wurde Goerdeler von der Leipziger Stadtverordnetenversammlung im zweiten Wahlgang zum Oberbürgermeister gewählt. Kurz nach seiner Amtsübernahme wurde er auch Mitglied im engeren Vorstand des Deutschen Städtetags, in dem er während seiner gesamten kommunalpolitischen Karriere aktiv mitwirkte.7 In der Messestadt Leipzig versuchte Goerdeler, durch verwaltungsorganisatorische Maßnahmen und den Verweis auf finanzpolitische Notwendigkeiten seine Kompetenzen als Oberbürgermeister in den Jahren von 1930 bis 1936 zu erweitern. Die Bekämpfung der sich verschärfenden kommunalen Finanzkrise war Goerdeler ein Anliegen, das er mit einer rigorosen Sparpolitik und der Kürzung von Sozialleistungen verfolgte.8 IX
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme am 30. Januar 1933 blieb Goerdeler in seinem Amt, obwohl er einer der wenigen großstädtischen Oberbürgermeister ohne NSDAP-Parteimitgliedschaft war. Während er von der neuen Reichsregierung um Mitarbeit sowohl in der Wirtschaftspolitik als auch im kommunalen Verfassungsrecht angegangen wurde, gestaltete sich seine Zusammenarbeit in Leipzig mit den lokalen Nationalsozialisten zunehmend schwieriger. Die Erweiterung seiner Kompetenzen als Oberbürgermeister, die Goerdeler in den ersten Jahren seiner Amtszeit hatte durchsetzen können, wurde durch die Nebenregierung der nationalsozialistischen Mitglieder in der Stadtverwaltung konterkariert. Goerdeler geriet in zunehmende Spannungen mit den Parteigenossen, insbesondere mit seinem Stellvertreter Rudolph Haake, der sich selbst als „erster verantwortlicher Parteigenosse im Rathau" bezeichnete.9 Als Goerdeler auch in zunehmenden Gegensatz zur Reichsregierung geriet, verschlechterten sich seine Möglichkeiten, sich in Leipzig durchzusetzen. Am 25. November 1936, anlässlich der Entfernung des Mendelsohn-Bartholdy Denkmals vor dem Leipziger Gewandhaus während seiner Abwesenheit und entgegen seiner ausdrücklichen Anweisungen, zog Goerdeler die Konsequenz, entschloss sich zurückzutreten und reichte sein Entlassungsgesuch ein.10
9 S. Schreiben Haakes an Goerdeler vom 15.11.1937 ; StAL, Kap. 10 G, Nr. 658, Bd. 1, Bl. 260 f.
10 Vgl. zu diesem Vorgang auch die Stellungnahmen Haakes und der Ratsherren in ebd., Bl. 265 ff. sowie Harold C. Deutsch: Verschwörung gegen den Krieg, München 1969, S. 9 ff.
11 Vgl. die Aktennotiz vom 9.12.1931 über seine Annahme des Amtes nach Verhandlungen mit Brüning und Hindenburg; BAB, R 43I/1163, Bl. 22.
12 Vgl. Entlassungsurkunde durch Hindenburg vom 16.12.1932; sowie BAB, R 43I/1163, Bl. 138.
13 Vgl. die Verhandlungen über Kompetenzen des Reichspreiskommissars in BAB, R 43II/315a.
Während seiner Leipziger Amtszeit, am 9. Dezember 1931, war Goerdeler mit der Übernahme des neugeschaffenen Amtes „Reichskommissar für die Preisüberwachun" in das Zweite Kabinett Brüning eingetreten.11 Offiziell blieb er in diesem Amt bis zu seiner formellen Entlassung durch Hindenburg am 16.12.1932, jedoch waren die Kompetenzen des Reichspreiskommissariats bereits im März 1932 an die Reichs- und Landesbehörden rückübertragen worden.12 Vom 4. November 1934 bis zum 1. Juli 1935 übernahm Goerdeler unter dem NS-Regime erneut den Posten des Reichspreiskommissars, jedoch konnte er mit den konkurrierenden Reichsministerien keine Einigung über seine Kompetenzen erzielen.13 X
Ebenfalls während seiner Leipziger Amtszeit engagierte sich Goerdeler für eine kommunalpolitische Neuordnung, von der er sich eine autoritäre Umformung der Kommunalverfassung erhoffte. Goerdelers Anliegen bei der Mitarbeit an der Deutschen Gemeindeordnung war ein zweifaches: Einerseits schwebte ihm eine autoritäre Bürgermeistereiverfassung mit einem berufsständisch gegliederten Beratungsgremium vor, in der die Weisungsgebundenheit des Bürgermeisters an Beschlüsse eines demokratisch gewählten Gremiums vollständig aufgehoben worden wäre; andererseits hoffte er, die kommunale Unabhängigkeit sowohl von der staatlichen Aufsichtsbehörde als auch von Einflussversuchen der NSDAP bewahren zu können. Seine Mitarbeit an einer Gemeindeordnungsreform zwischen dem Oktober 1933 und dem Januar 1935 führte jedoch nicht zu den von ihm erhofften Resultaten, sondern zu der Deutschen Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935, der er kritisch gegenüberstand.14
14 Vgl. die diesbezüglichen Unterlagen im Münchener Stadtarchiv; StAM, Akten Bürgermeister und Rat, Nr.
Während das Amt eines Reichskommissars für die Preisüberwachung selbst von untergeordneter Bedeutung war, führte Goerdelers Amtsübernahme im Dezember 1931 dazu, dass er verstärkt in Regierungsgeschäfte einbezogen wurde und seine Ansichten vortragen konnte. Gleichzeitig eröffnete ihm das Amt die Möglichkeit, neue Kontakte in der Berliner Ministerialbürokratie zu knüpfen und sich wichtige Informationsquellen zu erschließen. Seit seinem Eintritt in das Zweite Kabinett Brüning verfasste er Denkschriften mit vielfältigen Reformvorschlägen, insbesondere zur Wirtschaftspolitik und zum kommunalen Verfassungsrecht, die er z.T. direkt an Brüning und Hindenburg, z.T. an verschiedene Regierungsstellen sandte. Diese Praxis führte er nach der nationalsozialistischen Machtübernahme fort; ein fehlendes Programm des neuen Regimes im kommunal- und wirtschaftspolitischen Bereich mochte ihm die Möglichkeit erhöhter Einflussnahme suggeriert haben. Im Unterschied zu seiner politischen Einflusslosigkeit während der Präsidialkabinette Papen und Schleicher gewann Goerdeler nun wieder an Bedeutung, wie seine Mitwirkung an der Ausarbeitung der Deutschen Gemeindeordnung bewies.
Zwischen dem Dezember 1931 und dem September 1936 entstanden eine Reihe von Denkschriften, in denen sich Goerdeler mit der deutschen Politik auseinandersetzte. In wirtschaftspolitischer Hinsicht plädierte Goerdeler gegen eine XI
473.
15 S. auch die Auswahl seiner Publikationen im Anhang; S. XY.
16 Vgl. zu den Verhandlungen zwischen Goerdeler, Krupp und Wilmowsky sowie zu der Goerdeler betreffenden Korrespondenz zwischen Krupp und Wiedemann FAH 4 E 154.
17 Vgl. undatierte Niederschrift des Baurats Albrecht Fischer, Angestellter der Robert Bosch GmbH; IfZ München, ZS 1758.
antizyklische staatliche Finanzpolitik sowie für eine rigorose Sparpolitik, Sozialabbau und eine liberale Wirtschaftsordnung. Seine verfassungsrechtlichen Forderungen liefen auf das Ideal einer autoritären Regierung hinaus, unter Gewährung der Grundrechte.
In dem Zeitraum zwischen 1931 und 1937 entfaltete Goerdeler auch eine rege Publikationstätigkeit, die sich insbesondere auf wirtschaftsordnungspolitische Fragestellungen konzentrierte.15 Seine Plädoyers gegen erste planwirtschaftliche Elemente im NS-Staat zeitigten jedoch nicht die von ihm erhoffte Resonanz bei Regierungsstellen; nach der Festlegung der deutschen Wirtschaftspolitik auf die autarkistischen Prinzipien des Vierjahresplans im Herbst 1936 erschienen nur noch wenige Artikel von ihm, in denen er unermüdlich einen Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts propagierte.
Bereits einige Zeit vor seinem Rücktritt von dem Leipziger Oberbürgermeisteramt am 25. November 1936 (Pensionierung am 31. März 1937) mag Goerdeler sich das Ausscheiden aus dem öffentlichen Amt schon überlegt haben und ging auf ein Angebot von Gustav Krupp v. Bohlen und Halbach ein. Er hatte sich schon im Frühjahr 1936 zu seinem Eintritt in das dreiköpfige Krupp-Direktorium bereit erklärt. Nach fast einjährigen Verhandlungen und Anfragen an Hitler erhielt Krupp jedoch im Februar 1937 den Bescheid, dass ein Eintritt Goerdelers in den Krupp-Vorstand nicht erwünscht sei.16 Seit dem Sommer 1936 stand Goerdeler auch in Kontakt zu der Firma Robert Bosch, von der ihm im Frühjahr 1937 eine Stelle als Verbindungsmann zu den Berliner Behörden angeboten wurde. Diese Position füllte Goerdeler in den folgenden Jahren aus. Da seine „Sondertätigkei" für die Firma später auch die Wahrnehmung der Firmeninteressen im Ausland umfasste,17 konnte er selbst im Krieg ins neutrale Ausland reisen.
Auf den Rat Hjalmar Schachts hin entschloss sich Goerdeler im Frühjahr 1937 dazu, eine Reihe von Auslandsreisen zu unternehmen, um dort Kontakte mit führenden XII
Wirtschaftlern und Politikern zu knüpfen. Man solle draußen erfahren, dass es noch ein anderes, gutes, anständiges und vernünftiges Deutschland gebe, begründete Schacht den Sinn der Reisen.18 Goerdelers Anliegen war dabei, von den innenpolitischen Zuständen in Deutschland sowie den kriegerischen Absichten Hitlers zu berichten.19 Zur Deckung seiner Reisekosten erhielt Goerdeler von Gustav Krupp 50.000 RM; wichtiger war jedoch seine Beratertätigkeit für das Bosch-Unternehmen, die sowohl der Finanzierung als auch der Rechtfertigung seiner Reisen in den nächsten Jahren diente. Zwischen dem Juni 1937 und dem Juli 1939 bereiste Goerdeler Großbritannien, Frankreich, Belgien, Kanada, die USA, Italien, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Algerien, Libyen, Ägypten, Palästina, Syrien und die Türkei. Außer an Krupp und Bosch sandte Goerdeler seine Reiseberichte an die Generäle Fritsch, Beck, Halder und Thomas, an Göring sowie an Hitlers Adjutanten in der Reichskanzlei, Fritz Wiedemann.
18 Vgl. Hjalmar Schacht: Abrechnung mit Hitler, Berlin und Frankfurt/M. 1949, S. 75 f.
19 Vgl. Klemens v. Klemperer: Die verlassenen Verschwörer. Der deutsche Widerstand auf der Suche nach Verbündeten 1938-1945, Berlin 1994, S. 20 f.
In seinen Reiseberichten versuchte Goerdeler, durch verschiedene Strategien eine Beeinflussung der nationalsozialistischen Innen- und Außenpolitik zu erreichen. Ein konstituierendes Element der Reiseberichte ist die Betonung der ausländischen Verständigungsbereitschaft mit Deutschland; Goerdeler verwies wiederholt auf die Notwendigkeit, möglichst rasch eine umfassende Verständigungspolitik einzuleiten. Ein zweites Element der Reiseberichte ist die Beschreibung innenpolitischer Zustände in den bereisten Ländern, die meist implizit der Kritik an innenpolitischen Zuständen des NS-Staates dienten. Es handelte sich um eine Fortsetzung von Goerdelers Bemühungen, seine wirtschafts- und verfassungspolitischen Ordnungsvorstellungen durchzusetzen, indem er gleichgelagerte Bestrebungen im Ausland positiv hervorhob; seine eigenen Vorbehalte gegenüber nationalsozialistischen Maßnahmen verkleidete er entweder als Kritik an ähnlichen Maßnahmen im Ausland oder als Kritik einer anonymisierten ausländischen Öffentlichkeit am NS-Regime. Das dritte Element in seinen Reiseberichten, neben der Beschreibung außenpolitischer Verständigungsmöglichkeiten und innenpolitischer Zustände in den jeweiligen Ländern, ist die Beschreibung ausländischer Reaktionen auf deutsche innenpolitische Maßnahmen, die ebenfalls einer indirekten Kritik diente. Indem er ausländische Kritik an der XIII
nationalsozialistischen Innenpolitik gleichsam objektiv weitergab, konnte Goerdeler seine eigenen Bedenken indirekt anbringen.
Neben den komplexen Beeinflussungsversuchen mit Hilfe seiner Reiseberichte, die direkt an Protagonisten des NS-Regimes gerichtet waren, versuchte Goerdeler während seiner Auslandsreisen auch, die ausländische Politik in seinem Sinne zu beeinflussen. Er knüpfte Kontakte zu einer Vielzahl von Personen, sowohl deutschen Emigranten als auch ausländischen Wirtschaftlern und Politikern, mit denen er sich in seinem Hauptziel, der Verhinderung eines Krieges, einig glaubte. Während er seinen deutschen Adressaten gegenüber stets die Verständigungsbereitschaft des Auslands hervorhob, betonte er gegenüber seinen ausländischen Adressaten, dass die Mehrheit der Deutschen keinen Krieg wolle, dass jedoch die Appeasement-Politik gegenüber Deutschland aufgegeben werden müsse.20
20 Vgl. hierzu auch Arthur P. Young: Die „"-Dokumente. Die geheimen Kontakte Carl Goerdelers mit der britischen Regierung 1938/1939, hg. v. Sidney Aster, Betreuung der deutschen Ausg. u. Nachw. v. Helmut Krausnick, München 1989.
21 Vgl. hierzu auch Die Hassell-Tagebücher 1938-1944. Aufzeichnungen vom Andern Deutschland, hg. v. Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Berlin 1994.
22 Vgl. ebd., Eintragungen vom 11.10.1939 (S. 128 f.) sowie vom 30.12.1939 (S. 152 f.).
Noch während des Frühjahrs und Frühsommers 1939 hoffte Goerdeler, mittels ausländischer Interventionen mäßigend auf die nationalsozialistische Politik einwirken und den drohenden Krieg abwenden zu können. Gleichzeitig hatte er sich seit 1939 verstärkt um Kontakte zu Regimekritikern bemüht. Während seine Bekanntschaft mit dem damaligen Generalstabschef Ludwig Beck bereits von einem früheren Zeitpunkt datierte, war er im Sommer 1939 mit Ulrich v. Hassell, dem ehemaligen Deutschen Botschafter in Italien, bekannt gemacht worden.21 Um die Dreiergruppe Goerdeler, Beck und v. Hassell sammelten sich, nicht zuletzt aufgrund der unermüdlichen Kontaktsuche Goerdelers, andere Persönlichkeiten und Gruppierungen zu einer lockeren Interessengemeinschaft mit durchaus heterogenen Zielen und politischen Überzeugungen. Zwischen dem Polenfeldzug im September 1939 und dem Frankreichfeldzug im Mai/Juni 1940 gab sich Goerdeler der Hoffnung hin, eine Kriegsausweitung dadurch verhindern zu können, dass von den USA oder Großbritannien ein Friedensangebot an Hitler ergehen sollte. Mit dessen Annahme, so Goerdelers Überlegung, wäre der Frieden gesichert, während seine Ablehnung den Sturz Hitlers einleiten würde.22 XIV
Während die Versuche, eine Kriegsausweitung zu verhindern, zunächst von einer sich formierenden Militäropposition unterstützt worden waren, änderte sich deren Haltung nach dem Sieg über Frankreich. Auf dem Hintergrund der Siegeseuphorie in Deutschland sind Goerdelers Denkschriften von 1940 zu lesen, der an seiner Kriegsgegnerschaft festhielt und überaus scharfe Kritik an der nationalsozialistischen Kriegführung und Besatzungspolitik übte. Seine seit 1940 entstandenen Denkschriften haben einen deutlich anderen Charakter als frühere Schriften: In formaler Hinsicht haben sie keine eindeutigen Adressaten mehr, sondern scheinen neben einer Form von Selbstreflexion den Zweck zu haben, innerhalb der Oppositionsbewegung eine Diskussionsgrundlage zu bieten sowie Unentschlossene für die Bewegung zu gewinnen. In inhaltlicher Hinsicht handelt es sich nicht mehr um Reformvorschläge, deren letztendliches Ziel eine Beeinflussung des Regimes in Goerdelers Sinn war, sondern um eine grundsätzliche Verurteilung, die eine Regimeänderung anstrebte.
Wenn auch Goerdelers Reisetätigkeit während der Kriegsjahre naturgemäß abnahm, so blieb er doch durch seine Anstellung bei der Firma Bosch vergleichsweise mobil. Seine Überzeugung, dass der Krieg unter dem nationalsozialistischen Regime nicht gewonnen werden könne - und auch nicht gewonnen werden sollte - resultierte in der Abfassung zahlreicher Schriften, mit denen er Verbündete gegen das Regime zu gewinnen hoffte. Seine Versuche, einen Rückhalt für seine Umsturzpläne innerhalb der Militärführung zu finden, prägten die Jahre 1942 und 1943. Zwar gelang ihm dies in einigen Fällen, doch gerieten die zivilen Verschwörer mehr und mehr in Verzweiflung darüber, dass sich keiner der obersten Militärs festlegen wollte, während sich gleichzeitig innerhalb der zivilen Verschwörerkreise die Überzeugung verfestigte, dass ein Umsturzversuch ohne maßgebliche militärische Unterstützung aussichtslos sein müsse. Aus Goerdelers Briefen und Berichten von 1942/43 werden seine rastlose Suche nach Verbündeten sowie seine Verzweiflung über die innen- und außenpolitische Lage unter der nationalsozialistischen Herrschaft deutlich. Seine Schreiben an hohe Militärs spiegeln seine Enttäuschung über deren zögerliche Haltung wider. In derselben Zeit erlebte Goerdeler auch eine private Tragödie, den Tod seines zweitältesten Sohns Christian an der Ostfront. Christian Goerdeler war im Frühjahr 1942, nachdem er seine Offizierskameraden anlässlich von XV
Geiselerschießungen zur Gehorsamsverweigerung aufgerufen hatte, an die Ostfront strafversetzt worden, wo er einige Wochen später fiel.
Zwischen 1941 und 1944 verfasste Goerdeler ebenfalls eine Reihe von Schriften mit programmatischem Charakter. Seine berühmtesten Denkschriften, „Das Zie" und „Der We", fallen in diese Kategorie und wurden bereits in den 1960er Jahren veröffentlicht.23 In diesen Schriften entwarf Goerdeler eine verfassungspolitische Neuordnung, die nach einer Regimeänderung angestrebt werden sollte. Aus ihnen spricht seine Überzeugung, dass mit der angestrebten Neuordnung Mängel der Verfassungen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik vermieden werden könnten durch eine auf berufsständischen und Selbstverwaltungsprinzipien beruhende Regierungsform. Goerdeler strebte eine politische Ordnung an, die Politik im Sinne einer zwischen Parteien ausgetragenen Entscheidungsfindung überflüssig machen sollte. Als Kommunalpolitiker stand ihm das Modell der Gemeindepolitik vor Augen, die im wesentlichen Sachentscheidungen auf der Basis einer gut funktionierenden Einheitsverwaltung vornahm und herkömmliche politische Auseinandersetzungen überflüssig zu machen schien. Der „Reichsaufbau von unten nach obe", der Goerdeler vorschwebte, implizierte aus seiner Sicht nicht nur ein Ende des Klassenkonflikts, sondern die Beendigung (partei)politischer Konflikte schlechthin. In der von ihm geplanten, auf berufsständisch organisierten Institutionen aufgebauten „Volksgemeinschaf" erschöpfte sich Politik in der reibungslosen Organisation eines ausschließlich an Sachzwängen orientierten verwaltungspolitischen Handelns.
Während Goerdeler so auf der einen Seite seine Konzepte für einen neuen Staatsaufbau für Mitverschwörer darlegte und begründete, bemühte er sich seit 1943 auch wieder verstärkt darum, Gehör bei den Alliierten zu finden. Mit Schriften an die britische Regierung strebte er an, die außenpolitischen Grundlagen für seine innenpolitischen Neuordnungspläne zu schaffen. Dabei zielte er insbesondere auf die Rücknahme der Unconditional Surrender-Forderung, die auf der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 von den Alliierten aufgestellt worden war. Zugleich beschäftigte er sich verstärkt mit Plänen für ein geeintes Europa; die Bildung einer Europäischen Union schien ihm sowohl der Garant eines zukünftigen, dauerhaften XVI
23 Vgl. Wilhelm Ritter v. Schramm (Hg.): Beck und Goerdeler. Gemeinschaftsdokumente für den Frieden 1941-1944, München 1965.
24 S. dazu Sabine Gillmann: Die Europapläne Carl Goerdelers. Neuordnungsvorstellungen im nationalkonservativen Widerstand zwischen territorialer Revision und europäischer Integration, in: Thomas Sandkühler (Hg.): Europäische Integration. Deutsche Hegemonialpolitik gegenüber Westeuropa 1920-1960, Göttingen 2002, S. 77-98.
25 Vgl. Hassell-Tagebücher, Eintrag v. 21.12.1941, S. 289 ff.
Friedens als auch eine Chance für Deutschland, zu harten Friedensbedingungen zu entgehen.24
In der Zwischenzeit hatten sich die Kontakte der Verschwörergruppe um Goerdeler, Hassell und Beck erheblich erweitert: Neben Einzelpersönlichkeiten wie dem preußischen Finanzminister Johannes Popitz, dem Wirtschaftswissenschaftler Jens Jessen, dem Großgrundbesitzer Wenzel-Teutschenthal sowie verschiedenen Industriellen aus dem Reusch-Kreis pflegte Goerdeler auch engen Kontakt zu Mitgliedern der Freiburger Kreise, u.a. mit Constantin v. Dietze und Adolf Lampe. Über Ulrich v. Hassell knüpften die Verschwörer im Dezember 1941 erste Kontakte zu Mitgliedern des Kreisauer Kreises; während Hassell anscheinend einen sehr positiven Eindruck bei den Kreisauern hinterließ und selbst Popitz anfänglich ihre Zustimmung fand, nahm Goerdeler ihnen gegenüber eine ablehnende Haltung ein, die von diesen erwidert wurde.25 Über Ludwig Beck wiederum fand während dieser Zeit fast parallel eine Kontaktaufnahme zu ehemaligen Gewerkschaftsführern statt, die von dem General v. Hammerstein-Equord initiiert worden war. Bei den ehemaligen Gewerkschaftsführern handelte es sich um die Gruppe um Jakob Kaiser, Wilhelm Leuschner und Max Habermann, unter deren maßgeblicher Mitwirkung Ende April 1933 der „Führerkreis der vereinigten Gewerkschafte" gegründet worden war. In Besprechungen, die Goerdeler seit Anfang 1942 regelmäßig mit den Gewerkschaftlern führte, wurde eine weitreichende Einigung über die Organisation und Funktion der zukünftigen Arbeiterbewegung erzielt. Innerhalb des Militärs hatte sich in der Zwischenzeit ein Widerstandszentrum in der Heeresgruppe Mitte um Henning v. Tresckow gebildet, der seit Mitte 1942 in Kontakt mit Beck und Goerdeler stand. Nachdem sich die Hoffnung auf eine Initiative der Armeeführer als trügerisch erwiesen hatte, begannen die jüngeren Generalstabsoffiziere, an der Möglichkeit eines Armeeputsches zu zweifeln - auch die durch den persönlichen Eid auf Hitler abgeforderte Loyalitätsbindung führte sie zu der Überzeugung, dass allein ein Attentat auf Hitler den erhofften Erfolg versprechen könne. Die Attentatspläne, die mit der Versetzung Stauffenbergs in die Bendlerstraße feste Konturen annahmen, waren XVII
wiederum in dem Kreis der zivilen Verschwörer umstritten, und insbesondere Goerdeler konnte ihnen nicht zustimmen.
Im Verlauf der Jahre 1942 und 1943 entstanden eine Reihe von Dokumenten, die der geplanten Regierungsübernahme dienten. Der zivile Verschwörerkreis um Goerdeler hatte Listen für die Politischen Beauftragten und die Verbindungsoffiziere für die Wehrkreise aufgestellt sowie erste Bekanntmachungen der Umsturzregierung abgefasst. Hierbei handelte es sich um programmatische Verlautbarungen, die Grundsatzerklärungen für die Zeit nach der geplanten Regierungsübernahme gleichkamen. Während so von ziviler Seite die Vorbereitungen für einen Staatsstreich abgeschlossen waren, warteten die Verschwörer auf die militärische Initialzündung. Die Hoffnung, dass die Befehlshaber der Heeresgruppen die Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad am 31. Januar 1943 für eine Umsturzinitiative nutzen würden, zerschlug sich jedoch; wiederholte Attentatsversuche auf Hitler scheiterten. Indem sich die Hoffnungen auf einen Militärputsch als trügerisch erwiesen, kam es auch seltener zu Treffen der „Honoratiorengrupp" um Goerdeler, Beck und v. Hassell, die ohne militärische Initialzündung keine Handlungsmöglichkeiten für sich erblickte. „Von Popitz und Goerdele", so schrieb Hassell im April 1943, „sah ich in letzter Zeit nur wenig. Es ist ja auch nichts zu machen"26 Goerdeler verbrachte die Zeit bis zum Stauffenberg-Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 in ähnlicher Weise wie zuvor - er fasste Schriften ab, suchte nach Verbündeten, versuchte Militärs zum Handeln zu bewegen und bemühte sich um Kontakte zu den Alliierten.
26 Vgl. Hassel-Tagebücher, Eintrag v. 20.4.1943, S. 363.
Am 17. Juli 1944 war ein Haftbefehl gegen Goerdeler erlassen worden, dessen Auslöser nicht mehr eindeutig zu klären ist. Jedenfalls befand sich Goerdeler, durch den Berliner Polizeipräsidenten Wolf Heinrich Graf v. Helldorf gewarnt, seit dem 18. Juli auf der Flucht, die ihn von Leipzig über Berlin nach Ostpreußen führte. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 musste er mit der Entdeckung der Ministerliste der Umsturzregierung rechnen, auf der er als neuer Reichskanzler auftauchte; aus den sogenannten „Kaltenbrunner-Berichte" ergibt sich, dass Goerdelers Stellung innerhalb der zivilen Verschwörung dem NS-Regime spätestens XVIII
seit dem 25. Juli bekannt war.27 Seit dem 1. August 1944 war auf die Ergreifung Goerdelers ein Kopfgeld in Höhe von einer Millionen Reichsmark ausgesetzt; am 12. August, mittlerweile in Ostpreußen, wurde er erkannt und sofort verhaftet. Am 8. September 1944 wurde Goerdeler vom Volksgerichtshof als „Verräte" und „politischer Kriegsspio" zum Tode verurteilt.28 Während das Todesurteil gegen seine Mitangeklagten Ulrich v. Hassell, Paul Lejeune-Jung und Josef Wirmer noch am Nachmittag desselben Tages vollstreckt wurde, vergingen bis zu Goerdelers Hinrichtung am 2. Februar 1945 fast fünf Monate strenger Haft im Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße.
27 Vgl. Schreiben Kaltenbrunners an Martin Bormann vom 25.7.1944; abgedr. in: Hans-Adolf Jacobsen (Hg.): Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt, Sonderausg. Stuttgart 1989, S. 54 ff.
28 Vgl. die vollständige Urteilsbegründung ebd., S. 533-545.
29 Vgl. z.B. die Berichte von Eugen Gerstenmaier: Streit und Friede hat seine Zeit. Ein Lebensbericht, Frankfurt/M., Berlin und Wien 1981, S. 199 ff. sowie von Hans Speidel: Aus unserer Zeit. Erinnerungen, Berlin, Frankfurt/M. und Wien 1977, S. 214 f. Vermutungen, dass Goerdeler unter Drogen gesetzt worden war, stammen von Hermann Pünder: Von Preußen nach Europa. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1968, S. 159 ff. sowie von Constantin v. Dietze in einem Schreiben an Marianne Meyer-Krahmer vom 7.9.1948 (Briefkopie in BAK, N 1166, Bd. 492).
Goerdeler hat offensichtlich während seiner Haftzeit Nachrichten darüber erhalten, dass seine gesamte Familie in „Sippenhaf" genommen worden war. Er wusste, dass sein Vermögen beschlagnahmt war und er seine Familie mittellos hinterlassen würde. Anscheinend war ihm auch mitgeteilt worden, dass seine Enkel - beides Kleinkinder - verschleppt worden waren. Zu den seelischen Qualen, die ihm die Sorge um seine Familie bereiten musste, kamen körperliche Entbehrungen. Aus den Berichten Überlebender werden Goerdelers Beschreibungen der äußeren Bedingungen bestätigt: die Einzelhaft und mangelhafte Verpflegung, das grelle Licht, das die ganze Nacht in den Zellen schien, die ständige Fesselung und die psychologische Zermürbung durch gezielte Zuspielung von Informationen. Die Aussagen über Foltermethoden der Gestapo und den Einsatz von Drogen sind dagegen widersprüchlich. Der Bericht mehrerer Mitgefangener, die bei einer Gegenüberstellung mit Goerdeler den Eindruck hatten, dass er unter Drogen stünde, ist der einzige Anhaltspunkt für diese Vermutung.29
Während seiner Haftzeit verfasste Goerdeler, ebenso wie sein inhaftierter Mitverschwörer Johannes Popitz, eine Reihe von Denkschriften auf Anforderung des NS-Regimes. Nachdem das Amt III (SD-Inland) des Reichssicherheitshauptamtes im XIX
Oktober 1944 erfahren hatte, dass Goerdeler und Popitz sich noch in Gestapo-Gewahrsam befanden, hatte der dortige Referent für „Innere Verwaltung/Reichsgebie" Erhard Mäding den Antrag initiiert, ihnen Fragen zum Wiederaufbau vorzulegen sowie Goerdeler mit der Abfassung von Denkschriften zur Preisüberwachung und zum Verwaltungsaufbau zu beauftragen. Goerdeler wird sich von seiner Schreibtätigkeit einen Aufschub der Vollstreckung des Todesurteils versprochen haben, der mit einem raschen Sieg der Alliierten zu seiner Befreiung hätte führen können; die Tätigkeit gab ihm außerdem die Möglichkeit, geheime Aufzeichnungen anzufertigen, in denen er nochmals seine Vorstellungen zusammenfasste und sich gegen seine Verurteilung als „Kriegsspio" rechtfertigte. Auch die Umstände seiner Haft mögen erträglicher geworden sein: Die Zeit, die er mit der Abfassung von Schriften verbrachte, war eine willkommene Ablenkung von seinen Haft- und Verhörbedingungen. Während seiner langen Haftzeit verfasste Goerdeler eine Reihe von privaten Schriften, deren Umfang beachtlich ist. In ihnen setzte er sich mit der Diktatur und seiner eigenen Rolle in ihr auseinander, beschrieb die Ziele der Verschwörergruppe und fasste seine politischen Neuordnungsvorstellungen zusammen. In allen Schriften taucht auch die Sorge um seine Familie auf - neben der Bitte an in- und ausländische Freunde, seiner Familie beizustehen, finden sich auch finanzielle Regelungen und Ratschläge für seine Nachkommen
Als einer der letzten Hauptbeteiligten an der Verschwörung um den 20. Juli 1944 wurde Carl Goerdeler am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Tabellarischer Lebenslauf
31.Juli 1884 Geburt als viertes von fünf Kindern der Eheleute Julius und Adelheid Goerdeler in Schneidemühl, Westpreußen
1891-1902 Besuch des humanistischen Gymnasiums in Marienwerder, Ostpreußen
1902-1905 Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen und Königsberg
1905/1906 Ableistung des Einjährig-Freiwilligen-Dienstes in Königsberg
1906-1911 praktische Justizreferendars-Ausbildung: Praktika an ostpreußischen Justizstellen, Promotion zum Dr. jur. (15.6.1908), Ablegung der Zweiten Juristischen Staatsprüfung (31.3.1911)
6. Juni 1911 Heirat mit Anneliese Ulrich
1911-1920 Tätigkeit in der Stadtverwaltung Solingen, zuletzt als Beigeordneter
Aug. 1914 - Jan. 1919 Teilnahme am Ersten Weltkrieg
Feb. 1919 Eintritt in die DNVP
Juni 1919 Teilnahme an den Oststaat-Plänen
1920-1930 Zweiter Bürgermeister in Königsberg; Vorstandsmitglied im DNVP-Landesverband Ostpreußen
1922-1927 Mitglied des DNVP-Parteivorstands
2. Apr. 1930 Wahl zum Leipziger Oberbürgermeister
9. Dez. 1931 Eintritt in das Zweite Kabinett Brüning als Reichskommissar für die Preisüberwachung
12. Dez. 1931 Austritt aus der DNVP
16. Dez. 1932 Entlassung aus dem Amt des Reichpreiskommissars
Okt. 1933 - Jan. 1935 Mitarbeit an der Deutschen Gemeindeordnung
4. Nov.1934-1. Juli 1935 Reichskommissar für die Preisüberwachung unter Hitler
25.Nov.1936 Einreichung des Entlassungsgesuchs als Leipziger Oberbürgermeister
Frühjahr 1937 Entlassung als Leipziger Oberbürgermeister; Antritt einer Stelle als Verbindungsmann der Firma Robert Bosch zu den Berliner Behörden und zum Ausland
Juni 1937 - Juli 1939 Reisen nach England, Frankreich, Belgien, Kanada, den USA, Italien, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Algerien, Libyen, Ägypten, Palästina, Syrien und der Türkei
1940 - Sommer 1944 Abfassung von Denkschriften gegen die Politik des NS-Regimes, programmatischen Denkschriften zu einer verfassungspolitischen Neuordnung sowie Schriften für eine geplante Regierungsübernahme
18. Juli - 12. Aug.1944 Flucht vor der Gestapo von Leipzig über Berlin nach Ostpreußen, wo er verhaftet wird
8. Sept.1944 Verhandlung vor dem Volksgerichtshof und Verurteilung zum Tode als Verräter und politischer Kriegsspion
Sept. 1944 - Febr. 1945 Inhaftierung im Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße; Abfassung von Schriften auf Anforderung des Reichssicherheitshauptamts sowie von privaten Briefen und Schriften
2. Febr.1945 Hinrichtung in Berlin-Plötzensee
Bestandsbeschreibung
Papiere aus der gesamten Zeit seiner politischen Tätigkeit, darunter Denkschriften und Reiseberichte; einige von Gerhard Ritter gesammelte Unterlagen über Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung gegen Hitler. (Stand: 1977)
Inhaltliche Charakterisierung
Überlieferungsgeschichte und archivische Bearbeitung
Von Carl Goerdeler ist aus verschiedenen Gründen kein geschlossenes Schriftenkonvolut hinterlassen worden: Seine kommunal- und reichspolitische Arbeit bis 1936/37 sowie seine Verbandsarbeit ist in den Archiven der entsprechenden Institutionen, Ministerien und Stadtarchive dokumentiert, und Goerdeler hat nur in seltenen Fällen Abschriften oder Durchschläge angefertigt. 1938 hatte Goerdeler damit begonnen, oppositionelle Schriften gegen das NS-Regime abzufassen, deren Sammlung bei sich zu Hause eine Gefahr für die Familie bedeutet hätte. Diese Schriften aus der Periode 1938-1944 waren verstreut, bei Freunden und Mitverschwörern hinterlegt, die wiederum Teile nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 vernichteten, sowie in dem Berliner Hotel am Askanischen Platz, in dem Goerdeler abzusteigen pflegte. Teile dieser Schriften wurden von der „Sonderkommission 20. Jul" des Reichssicherheitshauptamtes im Laufe der Ermittlungen gefunden und beschlagnahmt.
Die Familie Goerdeler hat sich erst spät um die schriftliche Hinterlassenschaft kümmern können. Die amerikanischen Truppen hatten sie wohl in Österreich befreit, aber hielten sie dann für Befragungen in Italien, ehe sie alle nach Frankfurt/M. flogen. Dann galt es zuerst, die verschleppten Enkel zu finden, schließlich an einem neuen Ort eine Existenz aufzubauen, da Leipzig inzwischen zur Sowjetischen Besatzungszone gehörte. Aber immerhin konnte Goerdelers Bewacher Wilhelm Brandenburg dem Sohn Reinhard Goerdeler noch die von ihm aus dem Gefängnis geschmuggelten privaten Schriften aushändigen. Die Sammlung und Überlieferung von Schriften durch die Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit ist vor allem der Witwe Goerdelers zu verdanken. Die Unterlagen aus dem Familienbesitz wurden Ende der 1940er Jahre dem Historiker Gerhard Ritter zur Verfügung gestellt, der im Auftrag der „Forschungsgemeinschaft 20. Jul" eine erste umfassende Geschichte des Widerstands gegen Hitler erarbeitete.1 Nach der Abfassung seines Standardwerks über Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung überließ Ritter der Familie Goerdeler die Entscheidung darüber, welche Unterlagen an das Bundesarchiv weitergegeben werden sollten.
1 Vgl. Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954.
Diese Vorgehensweise führte zu einer Zweiteilung des Nachlasses Goerdeler, indem ein Teil der Unterlagen, 18 Bände mit Nachlass-Papieren Goerdelers, im IV
Bundesarchiv zugänglich gemacht wurde. Dieser ursprüngliche Nachlassbestand, von Gerhard Ritter geordnet und dem Bundesarchiv im September 1956 übergeben, wurde in den folgenden Jahrzehnten durch zusätzliche Bände aus anderen Privatnachlässen erweitert. So fanden sich weitere Schriften Goerdelers z.B. in den Unterlagen des ehemaligen Stuttgarter Oberbürgermeisters, Karl Strölin, sowie in denen der Brüder Wallenberg in Stockholm.
Ein anderer Teil, insbesondere Korrespondenz und die Schriften aus der Gestapohaft, verblieb bei der Familie, jedoch wurden von diesem wiederum einzelne Schriftstücke dem Bundesarchiv in Abschrift zur Verfügung gestellt. Die bei der Familie gelagerten Unterlagen wurden später zu einem großen Teil ebenfalls der zeitgeschichtlichen Forschung übergeben, während ein Rest von den drei ältesten Kindern Goerdelers verwahrt wurde. Nach dem Tod der beiden ältesten Söhne gingen diese Restbestände zu einem Teil in die Hände der Enkelgeneration, zu einem anderen Teil in den Besitz der älteren Goerdeler-Tochter, Frau Marianne Meyer-Krahmer, über.
Aufgrund der umfangreichen Interessensgebiete Goerdelers sowie seines großen Wirkungskreises, ebenso jedoch aufgrund des konspirativen Charakters seiner Tätigkeit 1938-1944 war die Sammlung seiner Schriften eine Aufgabe, die einige Zeit in Anspruch nahm. Insbesondere nach der deutschen Wiedervereinigung fand sich zusätzliches Material zu Goerdelers Wirken in Ostpreußen und Sachsen. Im Verlauf seiner Auslandsreisen 1937-1939 hinterlegte er auch Schriften in Großbritannien und den USA, die teilweise in dortigen Archiven liegen, teilweise nach dem Krieg den Nachkommen übergeben wurden. Auf den Seiten Y-Z wird auf die zahlreichen ergänzenden Archivbestände verwiesen, die Schriften Goerdelers enthalten.
Der nun vorliegende Nachlass im Bundesarchiv umfasst den alten Goerdeler-Nachlass, wie er unter der Signatur N 1113 seit 1956 dort zugänglich war, und darüber hinaus alle Schriften, die noch in Familienbesitz aufgefunden wurden, sowie neu aufgefundenes Material von Freunden und Mitverschwörern. Innerhalb des Bestandsverzeichnisses ist jeweils angemerkt, wenn ein Nachlassband aufgrund der Erweiterung und Neuordnung des Nachlasses eine neue Bandnummer bekommen hat. V
Den persönlichen Unterlagen wurden zufällig erhaltene Briefe und Postkarten Goerdelers an seine Kinder aus den Jahren 1930 bis 1943 beigefügt; die Aufzeichnung seiner Witwe über seinen Lebensweg (ursprünglich Bd. 20) wurden den persönlichen Unterlagen zugeordnet. Unterlagen und Aufzeichnungen Goerdelers über die Umbruchphase 1918/19 (ursprünglich Bde. 10, 11 und 29) wurden zusammengeordnet und um weitere Unterlagen ergänzt. Die Materialien zur Gemeindeverfassung (Bde. 22-32) sind ein neuer Komplex innerhalb des Nachlasses und enthalten Korrespondenz, Stellungnahmen sowie Entwürfe zur Deutschen Gemeindeordnung. Goerdelers Schriften von seiner Flucht und aus der Gestapohaft 1944/45 waren bisher nur auszugsweise und in Abschrift im Nachlass. Die Originale sind nun dem Nachlass beigefügt worden (Bde. 55-72 und 74) und die Abschriften (ursprünglich Bde. 24-26) wurden den Originalen zugeordnet. Goerdelers politische Korrespondenz ist um einen Band erweitert (Bd. 76) und mit den beiden vorhandenen Bänden (ursprünglich Bde. 9 und 38) zusammengeordnet worden. Die Unterlagen zu Goerdelers zahlreichen Mitgliedschaften in verschiedenen Vereinen wurden in einem Komplex zusammengefasst; mit der Ausnahme eines Bandes (ursprünglich Bd. 8) handelt es sich um neue Unterlagen (Bde. 12-18). Die Denkschriften Goerdelers bedurften einer Neuordnung, um verschiedene Versionen einer Denkschrift bzw. Entwürfe und endgültige Fassungen zu einer Denkschrift zusammenzuordnen. Während die Bände 40, 44, 45 und 48 Neuzugänge sind, mussten die ursprünglichen Bände 11 und 12 aufgeteilt werden. Die ursprünglichen Bände 14 und 15 sind in den Bänden 49 und 50 aufgegangen sowie um weitere Reiseberichte ergänzt worden. Die ursprünglichen Bände 16, 18, 19, 21 und 22 sind inhaltlich unverändert, aber umbenannt in die Bände 51, 52, 53, 78 und 79. Die Denkschriften sind von den Vortrags- und Zeitungsartikel-Manuskripten getrennt, so dass die Bände 34 und 35 nun neben neuen Unterlagen auch die Vortragsmanuskripte aus den ursprünglichen Bänden 11 und 12 enthalten. Aus demselben Grund wurden die Manuskripte für Zeitungsartikel sowie die Sonderdrucke aus den ursprünglichen Bänden 12 und 17 in den Bänden 36-39 sowie 89 chronologisch mit neuem Material zusammengeordnet.
Die neue Nachlassordnung enthält sowohl eine Materialsammlung als auch einen Anhang. Bei der Materialsammlung handelt es sich um Aufzeichnungen Reinhold Schairers (ursprünglich Bd. 28), von Goerdeler gesammelte Zeitungsausschnitte und Abhandlungen sowie um Aufsätze, Berichte und Zeitungsartikel über die VI
Widerstandsbewegung und Goerdeler aus der unmittelbaren Nachkriegszeit (ursprünglich Bde. 30, 31, 35 und 37). Schließlich enthält die Materialsammlung Kopien der mittlerweile vergriffenen Edition von Goerdeler-Schriften aus den USA (ursprünglich Bd. 36) sowie der Edition von Goerdeler-Schriften aus dem Archiv der Stockholmer Enskilda Bank. Der Anhang enthält Aufzeichnungen Gerhard Ritters aus US-amerikanischen Archiven (ursprünglich Bd. 29) sowie Kopien verschiedener Goerdeler-Schriften (ursprünglich Bde. 23 und 32), Aufzeichnungen von Zeugen über Goerdelers Flucht und Haftzeit (ursprünglich Bd. 27); schließlich wurde ein neuer Anhang eingerichtet mit Material zu Goerdelers jüngstem Bruder und Mitverschwörer Fritz.
Zitierweise
BArch N 1113/...